Norwegische Sozialpädagogik: Haltung, Zeit und gelebte Partizipation 

Ein Erfahrungsbericht von den Lehrkräften der FSP2 Antje, Arlena, Benjamin, Birte, Christina, Christine, Florian, Ira, Nicole und Ole zur Fortbildungsmobilität nach Oslo im Januar 2023.

Kinder aus dem Elementarbereich einer norwegischen Farmkita tummeln sich an einem schneebedeckten Hang und brausen mit Schlitten oder Skiern den Hügel hinunter. Die Erzieher:innen sind bei den Kindern, beobachten sie oder begleiten ihr Spiel sprachlich. Ein Mädchen steht mit ihren Langlaufskiern quer am Hang und versucht wieder und wieder sich die Skier anzuziehen. Nach mehreren Versuchen kommt ein zweites Kind dazu. Es scheint bemerkt zu haben, dass das Mädchen Unterstützung braucht, weil es sich neben die Skier setzt. Nach kurzem Austausch nimmt das Kind einen Skistock. Das Mädchen mit den Ski streckt ihr den Fuß entgegen, steht wackelig auf einem Bein und das Kind mit dem Skistock kratzt ihr den Schnee unter den Schuhen ab. Endlich klappt es mit dem Anziehen der Ski und das Mädchen fährt den Berg hinab. Die Kinder helfen sich gegenseitig unter den entspannten, aber wachsamen Augen der Erzieher:innen, denen kein Prozess am Hang entgeht. Wir beobachten, dass die Erzieher:innen der Farmkita die Kinder unterstützen, wenn sie direkt angesprochen und um Hilfe gebeten werden und dann auch nur so viel, wie es das Kind in dem Moment braucht. 

Der Ruf der norwegischen frühkindlichen Bildung ist, im internationalen Vergleich, zurecht ausgezeichnet. Die theoretische Grundlegung der Arbeit unterscheidet sich zwar nur in Nuancen von jener in Deutschland, jedoch gibt es in der Realisierung feine Unterschiede: Der Fokus der Arbeit der Erzieher:innen liegt auf dem Spiel der Kinder, was auch unsere Beobachtungen am Hang der Farmkita bestätigen. Es gilt nicht, das Spiel der Kinder anzuleiten, sondern dem Spiel Raum und vor allem Zeit zu geben. Diese Haltung fällt uns auch bei weiteren Hospitationen in Kitas in Oslo auf: Kinder werden als kompetent wahrgenommen, es wird ihnen vertraut und sie vertrauen sich selbst. So dürfen sie ganz für sich sein, um ihren Lern- und Bildungsprozess so zu gestalten, wie sie es benötigen. „Mache nichts, was das Kind nicht selber machen kann“, ist ein Satz, den wir in Norwegen nicht nur immer wieder hören, sondern auch ständig beobachten. Und Kinder können sehr viel mehr selber machen, als wir annehmen. 

Ähnlich wie bei uns in Deutschland, braucht es auch in Norwegen viel Herzblut, um im Bildungssektor tätig zu sein. Denn auch dort ist die Bezahlung für “Kindergarten Teachers” nicht sonderlich gut: 60.000€ brutto im Jahr bei höchster Gehaltsstufe sind in Bezug auf den BA-Abschluss, die Bedeutung der Arbeit für die Gesellschaft und die Lebenserhaltungskosten nicht allzu viel. Die Attraktivität des Berufs wird allerdings durch die Arbeitsbedingungen gesteigert: z. B. viel pädagogischer Freiraum, strukturelle Gestaltungsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene, ein deutlich besserer Personalschlüssel (1:3 in der Krippe und 1:6 im Elementarbereich) und zehn Monate Elterngeld in Höhe des vollen vorherigen Gehalts. In Oslo wird zudem in der Kita pro Kind 5m2 Fläche berechnet – das ist 40% mehr als in Hamburg. Zahlen, die erfreuen. Und letztendlich auch den oben beschriebenen Berufsalltag in einer Farmkita möglich machen. Der bewusste Umgang der Pädagog:innen mit Zeit als pädagogische Ressource und die konsequente Fokussierung auf die Zeitsouveränität der Kinder mit dem Ziel, so etwas wie Zeitwohlstand für alle Beteiligten zu erreichen, nehmen wir als wertvollen Impuls aus Norwegen mit. Zu spüren, dass die kindliche Zeitsouveränität als die Grundvoraussetzung von Bildung und Lernen gesehen wird, war eine tiefgreifende und tolle Erfahrung für uns alle.